Elektrischer Verkehr braucht Infrastruktur – und das bedeutet Migration (eb 11-12 | 2018)
Alles wird elektrisch: das Auto, der Bus, der Lkw, das Schiff, ja vielleicht sogar das Flugzeug. Und selbstverständlich auch der Diesel-Zug. Möglich machen sollen das immer mehr und immer bessere Energiespeicher, die zukünftig überall preiswert und umweltverträglich verfügbar sind. Die ersparen uns auch die Energieübertragungsleitungen. Und alles wird natürlich getragen von einem gesamtgesellschaftlichen Konsens, dass wir die Welt jeden Tag besser machen … – So viel aus der Abteilung Wunschdenken; das passt ja auch gut zur Weihnachtszeit.
Was ist die Realität? Tatsächlich haben die Verantwortlichen in vielen Kommunen und deren Verkehrsbetrieben Absichtserklärungen oder sogar Aktionspläne zur Umstellung ihrer Busflotten auf emissionsarme elektrische Antriebe vorgelegt, allen voran Großunternehmen wie die aus Berlin oder Hamburg. Das ist grundsätzlich sehr zu begrüßen. Auch Zustellerflotten in Städten werden schrittweise mehr elektrisch – allerdings bei ständig wachsendem Aufkommen.
Die ersten beiden Feldversuche für elektrifizierte Autobahnen in Hessen und Schleswig-Holstein nehmen Gestalt an, ein drittes Projekt auf einer Bundesstraße im badenwürttenbergischen Murgtal findet sich gerade. Im Bereich der elektrischen Pkws geht es ebenfalls vorwärts, allerdings viel langsamer als versprochen, was die Akzeptanz und den Anteil wirklich elektrischer Fahrzeuge betrifft. Meistens sind es dann auch noch Zweit- oder Drittfahrzeuge, die zusätzliche innerstädtische Flächen zur Abstellung beanspruchen.
Und auch bei der Bahn stehen die Signale für die weitere Elektrifizierung auf Grün. Der Ausbau der klassischen Elektrifizierung von derzeit knapp 60 % auf 70 % des Netzes steht als Ziel im Koalitionsvertrag, auf weniger befahrenen Strecken des Regionalverkehrs sollen zukünftige Ausschreibungsverfahren emissionsarmen alternativen Antrieben höhere Zuschlagschancen einräumen.
Also alles gut? Die Zielrichtung für mehr Elektroverkehr stimmt. Aber ganz gleich, womit wir elektrifizieren, ob mit Fahrleitungen, Batterie- beziehungsweise Kondensatorspeichern oder Brennstoffzellen: All das braucht umfangreiche energietechnische Infrastrukturen – und zwar in der Fläche. Dieses Thema scheint der Mehrheit der Akteure erst langsam bewusst zu werden. Im Fokus stehen bisher viel zu sehr die Fahrzeuge mit ihren Antrieben und Energiespeichern. Aber diese können eben die elektrische Energie nur speichern. Also muss diese erst einmal in großen Mengen zusätzlich erzeugt und auch übertragen werden, mit Infrastrukturen im öffentlichen Raum. Das heißt schlicht und ergreifend umfangreiche Planungs-, Abwägungs-, Genehmigungs- und Bauprozesse einschließlich eines langfristigen Finanzierungsvorlaufes. Und all dies in einer stark individualisierten Gesellschaft, die Veränderungen in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld grundsätzlich skeptisch begegnet. Hier liegt die große Herausforderung für den Elektroverkehr, und die ist überhaupt nicht technisch: Wie gelingt uns die Migration neuer Infrastrukturen in bestehende Strukturen vor dem Hintergrund geweckter Erwartungen? Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die zunächst viel Verständnis für die Notwendigkeiten erfordert.
Die eb – Elektrische Bahnen wird mit ihren exzellenten Fachbeiträgen auch über diese Weihnachtszeit hinaus dazu beitragen, das Wissen über Infrastrukturen als Grundlage für die Elektrifizierung des Verkehrs anschaulich und mit fachlicher Tiefe zu vermitteln. Nutzen Sie das und sagen Sie es weiter. Dies ist mein Wunsch als Herausgeber.
Prof. Dr. Arnd Stephan
Technische Universität Dresden
Professur „Elektrische Bahnen“