Auszug | eb - Elektrische Bahnen 4 | 2024

121 Editorial 122 (2024) Heft 4 Hundert Prozent elektrifizieren? Sollen Bahnnetze zu 100% elektrifiziert werden? Bekanntlich wurde dieses Ziel in der Schweiz in den 1960er Jahren erreicht. Inzwischen hat Luxemburg diesen Wert auch nahezu erreicht. Ist die vollständige Elektrifizierung also ein Luxus, den sich nur reiche Länder leisten können und sollen? Die Überlegenheit des elektrischen Antriebs ist weitestgehend unbestritten. Dies gilt in Bezug auf Leistungsfähigkeit, Energieeffizienz, Emissionsfreiheit, geringen Wartungsaufwand und Lärm. Aber, wie soll die elektrische Energie dem Antrieb zugeführt werden? Bei Speicherung der Energie auf dem Fahrzeug kann zumindest teilweise auf eine durchgehende Energieinfrastruktur entlang des Fahrweges verzichtet werden. Es soll an dieser Stelle nicht auf den Wasserstoff eingegangen werden, für welchen der Schreibende aufgrund des schlechten Wirkungsgrades, der fehlenden Versorgungsinfrastruktur und weiterer Probleme kaum Chancen für eine vernünftige Anwendung als Traktionsantrieb sieht. Besser sieht es bei der Batterietechnologie aus. Aber auch hier stellt sich die Frage: Ist das wirklich so wirtschaftlich, dass deswegen auf ambitionierte Elektrifizierungsziele verzichtet werden sollte? Dazu folgender, auf im Internet veröffentlichter Daten basierender, grober Vergleich: In einem Fall geht es um die Beschaffung von acht batterieelektrischen, zweiteiligen Triebzügen. Kostenpunkt: rund 145 Mio. EUR, also etwa 18 Mio. EUR pro Triebzug. Im anderen Fall geht es um eine Serie von 286 elektrischen Triebzügen. Das ist zwar in Bezug auf die Stückzahlen und Einmalkosten ein unfairer Vergleich, umgekehrt handelt es sich in letzterem Fall aber um Drei- und Vierteiler, also um Züge mit wesentlich größerer Kapazität. Kostenpunkt: etwas über 7 Mio. EUR pro Einheit. Wie gesagt, ein unscharfer Vergleich, auch weil die Randbedingungen in den Einsatzländern beider Vergleichsflotten unterschiedlich sind. Dennoch können diese Zahlen nun verglichen werden mit üblichen Kosten für die Elektrifizierung. Die Kennzahlen variieren stark, die Unschärfe nimmt weiter zu. Trotzdem: Bei der Flottengröße von acht Stück könnten mit der Preisdifferenz 20 bis 80 km Strecke elektrifiziert werden, bei der großen Flotte läge der entsprechende Wert irgendwo zwischen 700 und 3000 km! Egal, welche Zahlen nun die korrekten sind: Die kleine Rechnerei zeigt, dass allein mit der Differenz der Anschaffungskosten zwischen batterie- und fahrleitungsgespeisten Zügen namhafte Teile der damit befahrenen Netze elektrifiziert werden könnten. Dazu kommt, dass im Verlauf der Lebensdauer der Züge die Batterien voraussichtlich ein- bis dreimal ausgetauscht werden müssen. Die meisten Komponenten der Elektrifizierung haben dagegen eine viel höhere Lebensdauer und sind an deren Ende fast vollständig recyclebar. Und dann wäre da noch der bessere Wirkungsgrad der elektrifizierten Bahn … Dennoch hat die Batterietechnologie zweifellos ihre Berechtigung, einerseits für Spezialfälle wie zum Beispiel die Last-Mile, und andererseits als Übergangstechnologie. Eine solche wird es wohl brauchen, denn, um auf die Schweiz zurückzukommen: Trotz eindeutiger Überlegenheit der Elektro- gegenüber der damals maßgebenden Dampftraktion, hatte die Elektrifizierung mehr als 40 Jahre in Anspruch genommen. Aber sollte deswegen das Ziel einer Vollelektrifizierung aufgegeben werden? Schauen wir noch in ein ganz anderes Land: Indien hat sich vorgenommen, sein riesiges, breitspuriges Netz vollständig zu elektrifizieren. Und hat dieses Ziel per Ende 2023 bereits zu 93% erreicht! Nun gehört Indien, im Gegensatz zur Schweiz und zu Luxemburg, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen, nicht zu den reichen Ländern. Vollelektrifizierung, ein Luxus nur für reiche Länder? Wir täten gut daran zu analysieren, warum Indien das kann, und wir im reichen Europa nicht (mehr). Wenn Sie diese Zeilen lesen, wird in Luzern die Electrosuisse-Bahntagung 2024 über die Bühne gehen. Eine Gelegenheit, sich über aktuelle Themen zu informieren und auszutauschen. Die elektrische Traktion, sei es nun aus Batterien oder aus Fahrleitungen, wird auch bei dieser Ausgabe der Tagung einen roten Faden bilden. Fortschritte gibt es bei beiden und sind kurz- und mittelfristig hochwillkommen. Jedoch es gibt kaum Perspektiven, die es ratsam erscheinen lassen, das längerfristige Ziel einer Vollelektrifizierung aus den Augen zu verlieren. Martin Aeberhard Geschäftsleiter und Mitinhaber Railectric GmbH Mitglied Programmkomitee der Electrosuisse-Bahntagung eb 4 2024 ePaper Abonnement 2024 ã Georg Siemens Verlag GmbH & Co. KG Vervielfältigung und Verbreitung unzulässig und strafbar!

RkJQdWJsaXNoZXIy MjY3NTk=